Anfang September 1938 erließ die italienische Regierung ein Dekret, welches ausländischen Jüdinnen und Juden eine Frist von sechs Monaten vorgab, das Land zu verlassen. Da nicht umsetzbar, wurde dieses Dekret im März 1939 vorübergehend ausgesetzt. Für Flüchtlinge in Südtirol hingegen gab es Ende Juli 1939 eine gravierende Verschärfung: In Verbindung mit dem deutsch-italienischen Abkommen über die Optionsmöglichkeit der deutschsprachigen Südtiroler Bevölkerung zugunsten der deutschen Staatsbürgerschaft wurde verfügt, dass alle „ausländischen Juden“ binnen weniger Stunden Südtirol zu verlassen hatten. Statt der im Ausweisungsdekret angedrohten Abschiebung wurden ausländische Jüdinnen und Juden in Folge in ganz Italien angehalten/unter Druck gesetzt, das Land auf eigenes Risiko und Gefahr über eine selbst gewählte Grenze zu verlassen. Insbesondere nach Frankreich wurde der illegale Grenzübertritt (mit Booten oder über die Berge) staatlich befördert und von den jüdischen Flüchtlingen als vermeintliche Rettung in großer Zahl angenommen. Die französischen Behörden begegneten den illegalen Grenzübertritten unkoordiniert „milde“ entweder mit Abschiebung oder Verhaftung und Minimalhaftstrafen (meist auf Bewährung). So wurde Nizza zum Sammelpunkt vieler (auch illegal eingereister) jüdischer EmigrantInnen, die sich von hier – meist vergeblich - eine Weiterreisemöglichkeit in ein Exilland (USA, Südamerika) erhofften. Mit dem Eintritt Frankreichs in den Zweiten Weltkrieg wurden alle deutschen Staatsangehörigen männlichen Geschlechts zwischen achtzehn und fünfzig Jahren als „feindliche Ausländer“ vorübergehend interniert, so auch jüdische Flüchtlinge an der Côte d’Azur. Nach dem Blitzsieg Hitlers über Frankreich im Juni 1940 blieb der Süden des Landes unter Kontrolle der französischen Regierung in Vichy. Diese befahl am 26. August 1942 eine Polizei-Razzia in Nizza und Umgebung. Dabei wurden 650 noch hier verbliebene ausländische Jüdinnen und Juden festgenommen und an die deutsche Besatzungszone ausgeliefert, was ihre Deportation zur Folge hatte. Als am 11. November 1942 italienische Truppen die Côte d’Azur und angrenzende Départements östlich der Rhône besetzten, entstand dort eine Oase der relativen Ruhe und Sicherheit, was viele Jüdinnen und Juden aus den deutschen Besatzungszonen anzog. Dieses Zwischenspiel fand am 8. September 1943 ein Ende, als sich die italienischen Truppen nach der vorzeitigen Ankündigung des Waffenstillstands mit den Alliierten aus ihren besetzten Gebieten in Frankreich zurückzogen. Zwei Tage später hielt die Gestapo in Nizza Einzug und führte unter dem Befehl von Alois Brunner bis Mitte Dezember mit beispielloser Brutalität Judenverfolgungen durch. Weitere Verhaftungen von in- und ausländischen Jüdinnen und Juden in Nizza fanden 1944 statt. Siehe dazu Jacques Grandjonc/Theresia Grundtner (Hrsg.): Zone der Ungewissheit. Exil und Internierung in Südfrankreich 1933-1944. Reinbek bei Hamburg 1993, und Paolo Veziano: Ombre di confine. L'emigrazione clandestina degli ebrei stranieri dalla Riviera dei Fiori verso la Costa Azzurra (1938-1940). Pinerolo 2001. |
(1) | Diese Angaben finden sich im Fragebogen der Fürsorge-Zentrale der IKG/Auswanderungsabteilung. |
(2) | Die Familie Popper scheint in der von der Präfektur Bozen an das Innenministerium in Rom übermittelten Liste ansässiger ausländischer Juden (Stand Oktober 1938) auf. (Archivio Centrale dello Stato, MI, DGPS, DAGR, Cat. A16, Stranieri ed ebrei stranieri, busta 9, fasc. 15). Die Einrichtung einer Handels-Zweigniederlassung zweier Brüder von Alexander Popper in Bozen ist in Unterlagen (Gewerbeakten) dokumentiert, die sich im Landesarchiv Bozen befinden. Laut einer mittlerweile erschienenen Publikation war Alexander Popper ab 1901 zeitweilig Stellvertreter der Zweigniederlassung vor Ort. Siehe Joachim Innerhofer/Sabine Mayr: Mörderische Heimat. Verdrängte Lebensgeschichten jüdischer Familien in Bozen und Meran. Bozen 2015, S. 298. Ebenda findet sich auch eine etwas ausführlichere Beschreibung des Leidensweges von Rosalie, Alexander und Paul Popper nach deren Aufgriff durch die Nazi-Kollaborateure in Frankreich. |
(3) | Laut Mitteilung des Meldeamtes in Bozen war nur Alexander Popper offiziell in Bozen polizeilich gemeldet, und zwar von 12.7.1938 bis zum 17.5.1939. |
(4) | Nizza als Aufenthaltsort der Familie Popper während des Krieges hat Hans Popper in seinem Testimony-Eintrag in der Shoah-Datenbank von Yad Vashem angegeben. |
(5) | Siehe dazu die auf Listen von Beate und Serge Klarsfeld basierenden Einträge in der Shoah-Datenbank des DÖW. |
(6) | Dies belegt eben der Testimony-Eintrag von Hans Popper in der Shoah-Datenbank von Yad Vashem. |