Shanghai war für die verzweifelten Opfer des nationalsozialistischen Terrors kein bevorzugtes Ausreiseziel, sondern - nach der Weigerung der westlichen Staaten, ihre Einwanderungsquoten zu erhöhen - einer der letzten überhaupt möglichen Zufluchtsorte. Das Gros der jüdischen Flüchtlinge kam nach der Reichskristallnacht nach Shanghai, das exterritoriale Zonen besaß und bis August 1939 der einzige Ort war, der noch ohne Visum und Geldnachweis erreicht werden konnte. Bis zum Kriegseintritt Italiens (Juni 1940) wurde es zumeist auf dem Seeweg von einem der italienischen Häfen erreicht, danach nur mehr über den mühsamen Landweg (über Russland). Während des Zweiten Weltkrieges dürften sich etwa 18.000-20.000 EmigrantInnen jüdischer Herkunft dort aufgehalten haben, ca. 5.000 kamen aus Österreich. Die meisten Flüchtlinge sahen sich gezwungen, sich im Stadtteil Hongkew niederzulassen, einem Teil der Internationalen Niederlassung, der infolge des japanisch-chinesischen Krieges 1937 erheblich zerstört worden war. Sie fanden elende Wohnquartiere mit katastrophalen hygienischen Bedingungen vor. Hinzu kamen enorme wirtschaftliche, sprachliche und klimatische Schwierigkeiten. Trotz der widrigen Lebensumstände gelang es vielen, sich eine bescheidene Existenz aufzubauen. Es entstanden Viertel mit Geschäften, Handwerksbetrieben und Caféhäusern (z.B. genannt Klein Wien) und es entwickelte sich ein umfangreiches soziales und kulturelles Leben. Die Entwicklung hin zu einem Stück Normalität endete jedoch mit der japanischen Besetzung Ende 1941, welche eine schwerwiegende Zäsur und eine wesentliche Verschlechterung der Situation mit sich brachte. Bis auf wenige Ausnahmen mussten die EmigrantInnen schließlich im Mai 1943 in einen ihnen zugewiesenen Distrikt (der in etwa dem Stadtteil Hongkew entspricht) übersiedeln, den sie nur mit einem Passierschein verlassen durften. Außerhalb Shanghais konnten sich in den chinesischen Provinzen nur wenige Flüchtlinge ansiedeln. Nach dem Krieg setzte die Abwanderung der EmigrantInnen aufgrund verzögerter Staatsbürgerschaftsverfahren (sie galten ja als staatenlos) sowie beschränkter Aufnahmequoten bevorzugter Zielländer nur sehr schleppend ein. Als jedoch die kommunistischen Truppen unter Mao Tse-tung Ende der Vierziger Jahre nach und nach das chinesische Festland eroberten, stellte sich die Frage der Weiter- und Rückwanderung mit zunehmender Brisanz. Nach Europa ist nur ein kleiner Teil der Flüchtlinge zurückgekehrt, die meisten sind nach Nordamerika, Australien und Israel ausgewandert; nur wenige sind in Shanghai geblieben. Immerhin rund 1200 jüdische EmigrantInnen hatten sich zur Rückkehr nach Österreich entschlossen, doch wurden sie von der Realität im wiedererstandenen Österreich bitter enttäuscht. Das Verhalten der österreichischen Regierung und der Bevölkerung gegenüber den Shanghai-Emigranten zählt zu den beschämendsten Kapiteln der österreichischen Nachkriegsgeschichte. (5) |
(1) | Bis auf die Meldevermerke sind diese Angaben einer Kurzbiographie zu Erwin Lengyel entnommen. Diese findet sich in der Publikation des Ricci Institute for Chinese-Western Cultural History: Ricci 21st Century Roundtable on the History of Christianity in China. San Francisco 2000. |
(2) | Entsprechende Dokumente finden sich im Bestand des Österreichischen Staatsarchivs/Archiv der Republik/Österr. Gesandtschaft in China/Konsularabteilung Shanghai 1948-1950. |
(3) | Laut Angaben einer Enkelin. |
(4) | Die Angaben sind dem Opferfürsorgeakt bzw. den New Yorker Passagierlisten und dem Social Security Death Index entnommen. Den Hinweis, dass Margarethe Lengyel noch bis 2015 lebte, verdanken wir deren Tochter. |
(5) | Siehe dazu Gabriele Anderl: Der Weg zurück. In: Zwischenwelt. Zeitschrift für Kultur des Exils und des Widerstands, Jg. 18 (2001), Nr. 2. Wie schon die Nr. 1 desselben Jahrgangs ist auch Heft 2 der Zwischenwelt unter dem Titel „'Little Vienna' in Asien" dem Exil in Shanghai gewidmet. |