Italien hatte nach 1933 einer beachtlichen Zahl an Juden aus dem Herrschaftsbereich des Nationalsozialismus Aufnahme geboten und duldete sie noch mit Kriegseintritt in ihren Grenzen, obwohl seit Herbst 1938 auch hier antisemitische Rassegesetze in Geltung waren. Die Internierung in so genannten „Campi di concentramento" bedeutete aber eine Verschärfung der gegen sie gerichteten Verfolgung. Insgesamt entstanden ca. 40 meist kleine Internierungslager (mit ca. 50 bis max. 1.500 Personen) für Ausländer. Diese „Campi di concentramento" waren nicht mit den nationalsozialistischen Konzentrationslagern vergleichbar. Die Lebensbedingungen dort waren hart und entbehrungsreich, Misshandlungen kamen aber nur vereinzelt vor. Die ärztliche Betreuung war gewährleistet, die Sterblichkeit überstieg jene der ortsansässigen Bevölkerung nicht. Sofern sie sich nicht selbst unterhalten konnten, wurde den Internierten ein knapp bemessenes Taggeld gewährt. Sie hatten beschränkt freien Ausgang und durften ihre religiösen Traditionen fortführen. Aus diesen Lagern heraus war die Emigration bis zur deutschen Besetzung weiterhin möglich, das entscheidende Hindernis dafür bildeten aber - auch kriegsbedingt - die Schwierigkeiten ein Aufnahmeland zu finden. Die Haltung der italienischen Zivilbevölkerung den Juden gegenüber unterschied sich deutlich von jener im nationalsozialistischen Deutschland und Österreich. Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit waren - trotz antisemitischer Propaganda - kaum vorhanden, den jüdischen Flüchtlingen stand die Bevölkerung fast durchwegs mit Wohlwollen gegenüber. (13) So lange Italien seine Souveränität bewahrte, blieben die Juden von Deportationen in Todeslager verschont. Erst während der deutschen Besetzung nach dem Sturz Mussolinis (im Juli 1943) wurde deren systematisch vorangetriebene Vernichtung auch auf Italien ausgedehnt. Dort selbst gab es ein Vernichtungslager (Risiera die San Sabba in Triest). (14) |
(1) | Die Angaben sind den Archivunterlagen der Büchereien Wien entnommen. Einen kurzen Überblick zur Entstehungs- und Wandlungsgeschichte der städtischen Büchereien findet man unter https://buechereien.wien.gv.at/B%C3%BCchereien-Wien/%C3%9Cber-uns/Geschichte (27.2.2023). Zur Situation der Bibliotheksmitarbeiterinnen während des Austrofaschismus mit Kurzbiographien (darunter auch einer zu Sylvia Balter) siehe Gisela Kolar: „Bereit, jede Arbeit zu leisten?" - Bibliothekarinnen in den Wiener Arbeiterbüchereien nach 1936. In: Korotin, Ilse/Stumpf-Fischer, Edith (Hrsg.): Bibliothekarinnen in und aus Österreich. Der Weg zur beruflichen Gleichstellung. Wien 2019, S. 112-151 und 511f. |
(2) | Sidonie heiratete 1919 und zog kurzzeitig nach Berlin, wo ihre Tochter Elizabeth zur Welt kam. Zurück in Wien verbrachte sie hier noch einige Zeit, bevor sie ihrem Mann (1922) in das Gebiet des ehemaligen Deutsch-Ostafrika und heutigen Tansania folgte. Diese, wie auch andere Angaben zur Familiengeschichte sowie das eingefügte Foto der Geschwister Balter verdanken wir Yochanan Ben-Daniel, einem Enkel von Sidonie Balter. Siehe seinen Beitrag zur Familiengeschichte unter „Dokumente". |
(3) | Diese Aussagen, wie auch andere zur persönlichen Situation von Sylvia und Maximilian Balter vor und nach dem „Anschluss" basieren auf Angaben im Fragebogen der Fürsorge-Zentrale der IKG/Auswanderungsabteilung, sowie den angeschlossenen Bearbeitungsblättern dazu. Die Tante von Sylvia und Max Balter, Fanny Reder, geb. 12.6.1880 in Czernowitz, konnte offenbar nicht mehr flüchten und wurde am 9.4.1942 nach Izbica deportiert. |
(4) | Die Spur dazu haben wir über den „England & Wales Death Index" (www.ancestry.co.uk) gefunden, die konkreten Angaben sind einer Kopie der Sterbeurkunde entnommen. |
(5) | Max Balter und Viktor Frankl hatten von der 1. Klasse an gemeinsam das Gymnasium in der Kleinen Sperlgasse besucht. Obwohl Balter in der 7. Klasse in das Bundesreformrealgymnasium im 8. Bezirk gewechselt war, blieb er mit einigen seiner ehemaligen Schulkollegen aus dem „Sperleum“ weiterhin verbunden. Neben Viktor Frankl waren dies nachweislich Eugen Hofmann und Felix Grünberger. Obwohl durch die erzwungene Emigration verstreut (Eugen Hofmann war in die USA, Felix Grünberger, Arzt, nach Shanghai emigriert) blieb der Kontakt auch nach Kriegsende aufrecht. Die engen Freundschaften Balters zu Viktor Frankl und dessen Bruder sowie jene der Schulfreunde untereinander sind in einem regen Briefverkehr (1946-1949) zwischen Balter und V. Frankl im Viktor Frankl-Archiv dokumentiert. |
(6) | Gegenstand der ersten Briefe von Balter an Viktor Frankl war u. a. das Schicksal dessen Bruders Walter. Walter Frankl war vor seiner Vertreibung aus Wien als Innenarchitekt und Möbeldesigner (unter dem Künstlernamen Walter Franke) tätig. Siehe dazu Veronika Pfolz: Nach Italien emigriert – drei Künstlerinnen und Künstler. In: Zwischenwelt, Jg. 22, Nr. 1/2 (August 2005), S. 61f. Veronika Pfolz war aber offenbar nicht bewusst, dass es sich bei Walter Frankl um den Bruder Viktor Frankls handelte. Im Brief vom 23.4.1946 berichtete Balter kurz über die gemeinsame Zeit mit Walter Frankl in Mailand und in den Lagern Campagna und Tortoreto. Das Datum der Verhaftung und Anhaltung Balters im Staatsgefängnis wird auch über ein Schreiben des Archivio di Stato di Milano mit Bezug auf das Gefängnisregister von San Vittore bestätigt. Ein gemeinsamer Bekannter aus der Zeit in Mailand war Max Sipser, ein Reklamezeichner und Karikaturist aus Wien. Auch er hielt sich im Lager Santa Maria al Bagno auf, bevor er im Juli 1944 mit seiner Frau in die USA emigrieren konnte. |
(7) | Eine kurze Lagerbeschreibung sowie eine Liste der Internierten (ohne Datumsangabe) von Tortoreto Stazione findet sich im Buch von Costantino Di Sante: Dall'internamento alla deportazione. I campi di concentramento in Abruzzo (1940-1944). Mailand 2001. Online unter http://www.associazioni.milano.it/aned/libri/di_sante.htm (27.2.2023). Laut eines Auszugs des Archivio Centrale dello Stato gibt die Liste den Stand 21.9.1940 wieder. |
(8) | Alois Gogg war ein wegen einer Heirat zum Judentum konvertierter, 1939 aus Graz vertriebener Geiger und Dirigent, der die Lagerinsassen offenbar mit seiner Musik erfreute und einigen (etwa Max Balter) auch Violinunterricht erteilte. Alois Gogg konnte im Juni 1941 mit Hilfe einer jüdischen Gruppe aus Schweden über Portugal in die USA emigrieren, wo er sich freiwillig zur US-Armee meldete und seinen Namen in Milton Franklin Weber änderte. Nach dem Krieg war Milton Weber Professor für Violine und Musiktheorie am Carroll College, einer privaten Universität in Waukesha/Wisconsin sowie Gründer und Leiter des Waukesha Symphony Orchestra. Ab 1957 auch Leiter des „Music for Youth“ Projektes in Milwaukee, wechselte er 1962 (nach Erhalt des Ehrendoktortitels vom Carroll College) als Professor für „Advanced Conducting“ an das dortige Institute of Fine Arts der University of Wisconsin. Infolge der Scheidung von seiner ersten Frau und neuerlichen Heirat, zog sich Weber 1966 aus all seinen Funktionen in Wisconsin zurück. Er übersiedelte nach Nevada, wo er 1967 schließlich als Professor für „Advanced Conducting“ an das College of Performing Arts der Roosevelt Universität in Chicago geholt wurde. Seiner Berufung zum Leiter des Kenosha Symphony Orchestra konnte er nicht mehr Folge leisten, er verstarb 1968 kurz vor dem Antrittskonzert. Die Informationen darüber wie auch das im Text eingefügte Foto verdanken wir der Witwe und der Tochter von Milton Weber. Siehe auch den Artikel im Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00003217 (27.2.2023). Gemeinsamer Mitgefangener und Kamerad war eine Zeit lang auch Saul Steinberg, welcher aus Rumänien stammte und sich schon seit 1933 zwecks Architekturstudiums in Italien aufgehalten hatte. Er konnte gleichzeitig mit Alois Gogg im Juni 1941 emigrieren, musste allerdings einige Zeit in Santo Domingo überbrücken, ehe er (im zweiten Anlauf) im Juli 1942 eine Einreiseerlaubnis für die USA bekam. Saul Steinberg avancierte bald zu einem der bedeutendsten Zeichner und Cartoonisten der Nachkriegszeit. Siehe Mario Tedeschini-Lalli: Descent from Paradise: Saul Steinberg's Italian Years, 1933-1941. In: Quest. Issues in Contemporary Jewish History, Nr. 2, Oktober 2011. Online unter http://www.quest-cdecjournal.it/focus.php?id=221 (27.2.2023). Emil Bahsel, ein Kaufmann aus Wien, hatte Balter in Tortoreto kennen gelernt und verbrachte mit ihm danach auch einige Zeit im Lager Santa Maria al Bagno, bevor sich Bahsel im August 1945 zur Repatriierung entschloss und nach Wien zurückkehrte. Walter Frankl gelang es im Oktober 1941 in das Lager Castelnuovo di Garfagnana überstellt zu werden, einem „Familienlager“ mit „freier Internierung“, wo er endlich wieder mit seiner Frau, die sich seit seiner Verhaftung in Mailand kümmerlich durchschlagen musste, zusammen sein konnte. Wie schon in Tortoreto verbrachte er auch in Castelnuovo viel Zeit mit der Anfertigung von Vedutenzeichnungen, von welchen noch einige in Privatbesitz und diversen Sammlungen kursieren. Als nach dem Sturz Mussolinis die Deutschen Italien besetzten, konnten Else und Walter Frankl den Nationalsozialisten offenbar nicht mehr entfliehen. Sie wurden im Dezember 1943 zunächst in ein Lager nach Bagni die Lucca verlegt und von dort 1944 über Mailand nach Auschwitz deportiert. Als Zwangsarbeiter in einer Kohlengrube des Außenlagers Janina eingesetzt, überlebte Walter Frankl - wie auch seine Gattin - den Holocaust nicht. |
(9) | Im Zuge der Auflösung des Lagers von Tortoreto wurden die Inhaftierten in andere Lager verlegt. Wie aus einer Information des Zentralarchivs in Rom hervorgeht, ist Balter am 28. Juni 1943 (zusammen mit anderen Mitgefangenen aus Tortoreto) in jenes von Istonio Marina gebracht worden, das ursprünglich hauptsächlich mit italienischen politischen Gefangenen besetzt war. Erst in den letzten Monaten vor der Schließung diente es auch zur Internierung von anderen „Staatsfeinden“. |
(10) | In einem Schreiben an Viktor Frankl vom 3.3.1946 erwähnt Balter seine Flucht in die Berge und die Verfolgung durch die Nazis. Die Angaben zu seinen Aufenthalten in den DP-Camps finden sich in den Briefen vom 23.4.1946 und 10.3.1947 sowie in einer Postkarte vom 22.12.1947. |
(11) | In den Briefen an Viktor Frankl vom 20.6.1948 und 19.7.1948 führt Balter die Gründe für seine Entscheidung zur Emigration nach England aus und berichtet über die notwendige „Willenskraft (…) sich auf einen so nüchternen Beruf umzustellen und noch dazu in einem Klima und Lande das so sehr der romantischen heiteren Elemente des wundervollen sonnigen Italien entbehrt“. Auch seine inneren Konflikte zwischen „Möchten“ und „Müssen“ werden thematisiert, welche in späterer Folge zu akuten psychischen und körperlichen Beschwerden führen sollten, zu deren Heilung er selbst nur einen Weg sah: „Die beste Art der Behandlung wäre natürlich eine möglichst schnelle Änderung des Berufes der einen so unglücklich machte und ich habe auch schon daran gedacht, nach Italien zurückzukehren oder nach Wien, wo ich, wenn schon nicht in meinem früheren Schauspielerberuf, so doch wenigstens in einem intellektuellen Betätigungsfeld wie Zeitung, Radio, oder als Interpret bei einer alliierten Amtsstelle – da ich ziemlich gut Englisch in Wort und Schrift beherrsche – eine Unterkunft finden könnte.“ (Brief vom 8.5.1949) |
(12) | Der Zeitpunkt der Emigration in die USA ergibt sich aus einem Eintrag in New Yorker Passgierlisten (siehe www.ancestry.com). Zu den anderen Angaben siehe den Beitrag zur Familiengeschichte von Yochanan Ben-Daniel unter „Dokumente". |
(13) | Mit Antisemitismus und antisemitischen Ausschreitungen waren Jüdinnen und Juden aber sehr wohl in Südtirol konfrontiert. Siehe dazu Cinzia Villani: Zwischen Rassengesetzen und Deportation. Juden in Südtirol, im Trentino und in der Provinz Belluno 1933-1945. Innsbruck 2003. |
(14) | Zur Situation in Italien siehe Zwischenwelt. Zeitschrift für Kultur des Exils und des Widerstands, Jg. 22 (2005), Nr. 1/2 und 3, die beide schwerpunktmäßig dem Exil in Italien aus österreichischer Perspektive gewidmet sind. In Heft 1/2 findet sich eine ausgezeichnete Zusammenfassung von Klaus Voigt zum Exil von Österreichern in Italien 1938-1945. Darüber hinaus siehe sein umfangreiches Standardwerk: Zuflucht auf Widerruf. Exil in Italien 1933–1945. 2 Bde., Stuttgart 1989/1993 und Claus-Dieter Krohn (Hrsg.): Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945. Darmstadt 1998. |